Die schlechteste Lösung

Im Laufe meiner beruflichen Laufbahn als Industrial-Designer bin ich auf eine Methode der Kreativitätssteigerung gestoßen, die zwar den meisten bekannt, deren Wert aber unterschätzt wird. Ich meine das Rumblödeln.

Manch einer hat sie schon kennen lernen dürfen, die Lust etwas absolut Widersinniges zu denken und nach Möglichkeit noch einen obendrauf setzen zu können. Die Blödelrunde treibt sich gegenseitig zu geistigen Höchstleistungen, und je schlüssiger der Unsinn ist, umso lustiger. Kein Teilnehmer in dieser Runde wird in seinem Ideenfluss behindert oder kritisiert, alle verfolgen nur ein Ziel: es muss noch irrer, noch lustiger werden, bis der Intellekt nicht mehr zum Folgen im Stande ist.

Häufig geschieht dies unter dem Einfluss von hemmungsdämpfenden Substanzen, was zum einen den Kreis der Teilnehmer auf die Betrunkenen oder Bekifften beschränkt und zudem die Qualität des Unsinns mindert. Wegen der Furcht sich lächerlich zu machen wird nüchtern daher viel seltener rumgeblödelt.

Im Rahmen einer derart gestalteten Ideenrunde beschlossen die Teilnehmer eine Firma zu gründen. Es waren bereits Posten, Büros und Parkplätze verteilt, auch ein Firmenname war gefunden und es war geregelt, wer wann den Kaffee zu kochen hätte und wer den Müll entsorgt, allerdings blieb immer noch eine kleine, letzte Frage offen: was wollen wir produzieren oder verkaufen? Klar war nur eines, das Produkt oder die Dienstleistung musste absolut unnütz sein.

Allen Teilnehmer waren bewusst, dass sie sich der Aufgabenstellung von der komplett falschen Seite her näherten. Der Spaß bestand darin, die wichtigste Frage so weit wie möglich hinauszuzögern und an sie auch noch besonders hohe Ansprüche zu stellen. Als Marktführer hat man vor der Gesellschaft schließlich eine besondere Verantwortung, vor allem, wenn es um etwas Unnützes geht, da waren sich alle einig.

Zugegeben, es gibt viele Produkte oder Dienstleistungen, die nutzlos erscheinen, aber dennoch Käufer finden. Deren Nutzen liegt oft darin, dem Käufer Image, Anerkennung oder Gruppenzugehörigkeit zu verkaufen. Selbst das war uns noch zu viel. Das, was wir anbieten wollten, sollte auch niemand haben wollen. Eine wirklich nicht anspruchslose Herausforderung, oder?

Nach ein paar Minuten kam die rettende Idee: Wir gründen eine Consulting-Agentur, die verspricht, für jedes Problem die Schlechteste aller Lösungen zu finden. Das braucht niemand, das will auch niemand, außerdem brauchen wir uns nicht anzustrengen, liefern wir eben irgendeinen Mist ab. Nachdem das Gelächter abgeklungen war und die Idee etwas vertieft wurde, stellte sie sich als gar nicht so unsinnig dar, wie ursprünglich beabsichtigt. Wir hatten mal wieder versagt.

Die Suche nach der schlechtesten Lösung verändert unser Denken auf unterschiedliche Weisen.

So befreit sie zunächst die Diskussionsteilnehmer vom Druck alles richtig machen zu müssen. Wir sind gewohnt, nach guten Lösungen gefragt zu werden, wissen über die Schwierigkeiten und gehen daher vorsichtig vor. Die Suche nach der schlechtesten Lösung lässt diese Vorsicht vergessen, die Ideen beginnen zu sprudeln, es scheint sich eine neue Welt der Möglichkeiten zu eröffnen.

Die Suche nach der schlechtesten Lösung stärkt das Selbstvertrauen und nimmt die Angst vor Kritik. Die Teilnehmer lernen spielerisch hinter ihren Vorschlägen zu stehen, es gibt keinen Druck mehr und keine Versagensangst. Es ist ja alles nur Spaß. Trotzdem stärken diese Erfolgserlebnisse das eigene Selbstvertrauen, was sich später, bei der Suche nach ernsthaften Lösungen als positiv erweist.

Es scheint einfach schlechte Lösungen zu finden, das Spektrum ist schier unbegrenzt. Nur ein bisschen nachdenken, schon gibt es neue wahnwitzige Ideen. Die Teilnehmer lernen so, dass es immer Alternativen gibt. Auch, wenn einem im Moment nichts mehr einfällt, mit etwas Beharrlichkeit finden sich schon neue schlechte Lösungen.

Diese Erfahrung stärkt durch regelmäßiges Training das Vertrauen Lösungen zu finden, man hat sie nur noch nicht gefunden. Dies stärkt natürlich auch die Motivation bei der Suche nach echten, guten Lösungen. Die Vorstellung, dass es nur eine oder gar keine Lösung geben könnte, wird so als immer unwahrscheinlicher angesehen. Die Erfahrung bei der Suche nach der schlechtesten Lösung hat gelehrt, dass es immer Alternativen gibt, also muss es, verdammt nochmal, auch bei meinem reellen Problem mehr Lösungen geben. Also weiter suchen, noch einmal von vorne, vergessen wir das bislang Gedachte und gehen wir das Problem von einer anderen Seite an.

Die ersten schlechten Lösungen sind meist noch recht harmlos. Dinge gehen absichtlich kaputt oder werden zu teuer, nicht gut, aber noch im konventionellen Rahmen. Die Lösungen sind meist lustig, es werden Parallelen zu bekannten Lösungen gezogen und sarkastisch kommentiert. Diese Lösungen sind zwar schlecht, aber noch lange nicht die schlechtesten. Denken wir einfach mal an ein paar Diktatoren aus Vergangenheit und Gegenwart, sie haben Lösungen für Probleme gefunden, an die trauen wir uns nicht mal zu denken.

Moralische Grenzen werden von psychisch gesunden Menschen bewusst wahrgenommen. Abhängig von der Persönlichkeit werden geringfügige Überschreitungen als reizvoll und anregend wahrgenommen und bewusst gesucht, bei Überdosierung jedoch mit Abscheu und Ekel gemieden. Die Suche nach der schlechtesten Lösung macht solange Spaß, bis moralische Grenzen (meist von anderen) übertreten werden.

Was wäre, wenn ein Produkt einen Konsumenten absichtlich verletzen würde? Eine Puppe, die kleinen Mädchen Stromstöße verpasst, wenn sie gekämmt wird? An dieser Stelle steigen viele aus, denn diese schlechten Lösungen richten sich gegen unsere Werte und Überzeugungen. Es macht keinen Spaß, sich das schreiende Mädchen vorzustellen, man ist doch kein Perverser, der sich am Leiden anderer, noch dazu an Kindern erfreut! Im Kopf bildet sich eine Vorstellung dieses Mädchens, vielleicht die eigene Tochter oder Enkelin, sie ist blond oder dunkelhäutig, ganz nach eigener Assoziation und Vorstellungskraft. Diesem Kind etwas anzutun, auch nur daran zu denken, ist ein absolutes NoGo. Solche Gedanken werden mit aller Macht unterdrückt, die Reaktion ist Empörung und totale Ablehnung.

Das Argument, es wäre ja nur ein Gedankenspiel und keine Aufforderung zu konkreten Planen und Durchführen und dass dieses Unwohlsein ein Teil der Übung darstellt, hat Mühe sich gegen das eingefahrene Denken durchzusetzen. Da wird auch schnell eine Idee zu einer Überzeugung umgelabelt, um sich die unangenehmen Gedanken zu ersparen und sich statt dessen auf einen überhöhten moralischen Standpunkt zurückzuziehen.

Dieser Rückzug ins Bekannte, Bewährte ist die Quelle der Unkreativität. Sie nährt sich von eingefahrenen Denkmustern, unhinterfragten Prämissen und Denkfaulheit. Ein Verstoß gegen moralische Grundsätze zeigt diese Grenzen überdeutlich auf, da wir darauf mit Ablehnung reagieren. Andere Grenzen sind nicht mit so deutlichen Emotionen verknüpft, sie zu erkennen ist schwieriger.

Das Erkennen der Grenzen ist eine Sache, das Überwinden eine andere. Die Suche nach der schlechtesten Lösung trainiert gegen diesen inneren Widerstand anzukämpfen. Die Aufgabenstellung wird im Laufe der Zeit sachlicher angegangen, persönliche Überzeugungen während der Ideenfindungsphase ausgespart, das Denken wird freier, die Kreativität beginnt irgendwann zu wuchern und ist dann nicht mehr aufzuhalten.

Der Kreative ist sich seiner Barrieren bewusst. Er weiß, dass er Barrieren überwunden hat und mit seinen jetzigen Ideen an die nächsten Grenzen seiner Kreativität stößt, die es nach Möglichkeit wieder niederzureißen gilt. Das geht endlos so weiter, es gibt kein Ende.

Die Suche nach der schlechtesten Lösung ändert auch den Blick auf die behandelte Thematik. Gute schlechteste Lösungen sollen plausibel und realisierbar sein. Die besten schlechtesten Lösungen entfalten ihre Toxizität erst bei genauerer Betrachtung. Sie fördern eine gründliche Auseinandersetzung mit der Thematik, um mit dem geringsten Aufwand den größtmöglichen Schaden erzielen zu können.

Verändert die Puppe, die Elektroschocks austeilt, das Verhalten des Mädchens zu ihren Spielkameraden im Sandkasten? Hat die Hautfarbe und das Geschlecht eine Auswirkung? Besteht die Möglichkeit rassistische, ausländerfeindliche und sexistische Inhalte über Spielsachen zu vermitteln? Wie können diese Inhalte codiert werden, dass sie nur von Kindern verstanden werden, aber nicht von den Eltern oder Behörden?

Die möglichen Schäden müssen gegeneinander abgewogen werden, so kommen laufend neue Aspekte in die Diskussion. Die Folgenabschätzung und die Berücksichtigung von Wechselwirkungen tritt in den Vordergrund. Es ist eine Binsenweisheit: die gute Lösung für die einen bedeutet gleichzeitig die schlechte Lösung für andere. Nach welchen Kriterien kann entschieden werden?

Bei Aufgabenstellungen aus dem eigenen Umfeld offenbart die Suche nach der schlechtesten Lösungen Beziehungen, die bislang nicht bekannt oder verdrängt worden sind. Sie zeigt Schwächen und Fehler in der bisherigen Argumentation auf und kann zu Verunsicherung und Zweifel führen.

Die Resultate sind persönliche Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse, die erst einmal zu verdauen sind und zu einer geänderten Haltung führen können. Der Abgleich der gefundenen schlechtesten Lösungen mit den bekannten Lösungen kann ebenfalls zu Irritationen führen. Häufig werden Ursache mit Wirkung vertauscht, die Suche nach der schlechtesten Lösung stellt die Logik wieder her.

Die Suche nach der schlechtesten Lösung enttarnt Propagandalügen und ist nicht geeignet Scheinlösungen zu liefern.

Ihre Gefährlichkeit liegt in der erbarmungslosen Offenheit ihrer Erkenntnisse.

Aus diesem Grund wird die ‚Suche nach der schlechtesten Lösung‘ wohl auch nicht als etablierte Kreativitätstechnik, auch nicht als Möglichkeit der Provokationstechnik geführt. Selbst die Methode der Umkehrung wagt es nur sich auf beschränkten Spielfelder aufzutoben, ohne die zu Grunde liegenden Narrative umzukehren.

Die ‚Suche nach der schlechtesten Lösung‘ stellt das gesamte Wertesystem auf den Kopf und bedient sich dunkler, asozialer und krimineller Motivationen um neue Gedankengänge zu initiieren. Ihr Ziel ist es natürlich nicht sich mit diesen Ideen zu identifizieren und schlechte Lösungen vorzuschlagen oder sie gar umzusetzen. Sie ermöglicht es aber, schlechte Lösungen als solche zu identifizieren, auch wenn sie als gute Lösungen geplant und angepriesen werden.

Aus diesem Grund sollte die ‚Suche nach der schlechtesten Lösung‘ für Lösungen aus dem eigenen Umfeld nur dann angewandt werden, wenn die Teilnehmer die Gefährlichkeit dieses Vorgehens an fremden Problemen erkannt haben. Die Wahrheit will nicht jeder wissen.


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