Loblied auf die Kopie

„Lieber gut kopiert, als schlecht kreiert!“ (alte Designerweisheit)

Eine Aussage, die man von einem gewissenhaften Designer nicht erwarten würde. Dennoch lohnt es sich über dieses provokante ‚Konzept‘ ein paar Gedanken zu verlieren.

Kopien, vor allem plumpe Plagiate haben einen schlechten Ruf. Sie verletzen das Urheberrecht und stehlen geistiges Eigentum. Durch den Diebstahl entsteht großer wirtschaftlicher Schaden, da sich die Investitionen in neue Ideen später oder gar nie amortisieren. Um dies zu verhindern entwickelte sich das Patentwesen, dessen Hauptaufgabe die Förderung von Innovationen ist (oder sein sollte).

Kopieren ist das Grundprinzip des Lebens

Dem gegenüber steht jedoch die Tatsache, dass jede Form des Lebens auf Kopieren basiert. Das beginnt schon bei der DNA, bei der auf Teufel komm raus kopiert wird, über höhere Lebewesen, die ihren Nachkommen das Jagen beibringen, bis hin zum Menschen. Der Mensch ist ein Meister im Nachahmen, wir schauen uns ab, wie die anderen es machen und tun es ihnen gleich.

Kreative Menschen wandeln diese Kopien bewusst ab um sie zu verbessern. Oft sind es jedoch andere Einflüsse, die eine 1:1-Kopie nicht zulassen. Mangelnde Rohstoffe, andere Fertigungsverfahren oder andere sozialen oder wirtschaftliche Gegebenheiten führen zu alternativen Teillösungen.

Jedes Produkt, jede Dienstleistung, jede Idee hat eine eigene Seele. Das meine ich natürlich nicht spirituell, sondern als die Summe aller Umstände, die genau zu dieser Lösung geführt hat. Industrial-Designer sind in der Lage diese Umstände, oder zumindest Teile davon, wieder zu rekonstruieren oder ihnen neues Leben einzuhauchen.

Beispiel China

Ein oft unterschlagener Aspekt für den derzeitigen rasanten Aufschwung von China ist dessen Einstellung zur Nachahmung. In unseren Augen verletzen sie massiv Urheberrechte, westliche Firmen ziehen sich daher vermehrt aus dem chinesischen Markt zurück. Der Grund dafür liegt in der grundsätzlich materialistischen und kapitalistischen westlichen Grundeinstellung.

In der chinesischen Sicht auf die Welt zählt die Gemeinschaft mehr als das Individuum. Was für die Gemeinschaft gut ist, hilft letzten Endes auch jedem Einzelnen. Darum haben die Chinesen auch kein Problem mit Social Scoring: wer sich asozial verhält muss eben als Konsequenz auf die eine oder andere Annehmlichkeit, die die Gemeinschaft bietet, verzichten.

Wenn die Gemeinschaft einen höheren Stellenwert als das Individuum hat, dann gibt es auch kein herausragendes Recht auf die eigene Leistung, ganz im Gegenteil. Nach chinesischer Auffassung ist es eine Ehre kopiert zu werden, denn erst damit profitiert die Gemeinschaft von der individuellen Leistung.

Je nach Schätzung liegt die Beteiligung des chinesischen Staates in private Unternehmen zwischen 30 und 50%. Er übt seinen Einfluss auch über Subventionen, Partei- und Industrierichtlinien aus. Das führt dazu, dass Informationsabflüsse innerhalb Chinas keine so großen Schäden anrichten, wie das im Westen der Fall ist.

Ohne eine Bewertung abgeben zu wollen scheint dieses Konzept derzeit das erfolgreichste zu sein. Das wundert mich mittlerweile auch nicht mehr, denn es entspricht dem Wesen des Lebens an sich.

Natürlich ist es mit dem Kopieren allein nicht getan, sonst würde sich nie etwas ändern. Die Natur realisiert die Veränderungen über zufällige Mutationen, durch Selektion und Auslese, intelligente Lebewesen gehen da bewusster vor, auch wenn sie sich oft nicht über die Konsequenzen ihres Handelns im Klaren sind.

Kopieren oder nicht kopieren, das ist hier die Frage.

Für kreative Menschen ist kopiert zu werden immer ein Thema, aber wie gesagt: Kopieren ist DAS Naturgesetz des Lebens. Wer sich gegen diese Grundprinzip widersetzt, verhält sich bewusst widernatürlich. Hyperkreative haben kein Problem damit kopiert zu werden, ihr Motto ist: ‚Kopiere mich doch, ich habe schon viel Neues in der Pipeline.‘

Die Diskussionen rund um die Künstliche Intelligenz decken derzeit viele dieser Widersprüche auf. Meine Gedanken dazu werden bald folgen.


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